Adventskalendergeschichte 2023

Hoffnungsnotizen

Erster Dezember

 

 

 

In diesem Adventskalender geht es um HOFFNUNG.

 

Was uns täglich in den Medien überrollt hat wenig Hoffnungspotential in sich. Da geht’s nur um Krisen und Kriege. Und in unserem täglichen Umfeld? Da gibt es vielleicht was. Da gibt es Begegnungen mit anderen Menschen und Erlebnisse in der Natur, die uns mit Freude erfüllen und uns (neue) Hoffnung schöpfen lassen. Da gibt es beispielsweise den trockenen Alkoholiker, der seit vielen Jahren Fahrdienste für eine Wohlfahrtsorganisation leistet. Oder es gibt den murmelnden Bach der uns ruhig werden lässt und uns mit neuer Kraft in den Alltagstrott entlässt. Ich habe mir selbst einige Szenen überlegt, andere habe ich selbst erlebt, wieder andere wurden mir von Freunden berichtet. In sehr kurzen Geschichten habe ich versucht die Quintessenz jeder einzelnen Begebenheit herauszuarbeiten; die Quintessenz, die immer wieder und immer wieder anders die Hoffnung ist.

 

Eine Adventszeit voller Hoffnung wünsch' ich euch!

Zweiter Dezember

 

 

Gerade war der Himmel noch licht und blau gewesen. Jetzt verdunkelte er sich wie ihre Seele. Heiseres Krächzen übertönte alle anderen Geräusche. Kein Verkehrslärm, kein heiteres Toben von Kindern, schon gar keiner der leiseren Laute der Natur wie Wasserplätschern oder das Rauschen der Blätter an den mächtigen Bäumen war zu hören. Ein schwarzer Schwarm befand sich genau über ihr, tobte hin und her, schob sich dunkel vor den Horizont, franste düster an den Seiten aus. Plötzlich schien eine fremde Macht ordnend ins Chaos einzugreifen: die Vögel fanden eine gemeinsame Richtung. Zielgenau flogen sie eine Überlandleitung an und gruppierten sich. Mit einem Mal waren die nun stillsitzenden Vögel auf den Drähten der Leitung vor dem hellen Himmel Noten auf einem Notenblatt: wirkten wie eine fröhliche Melodie, geschrieben in das Blau des Himmels. Auch ihre Seele hellte sich wieder auf.

Dritter Dezember

 

 

Der Weg war zunächst ohne Ziel gewesen. Entscheidend war, dass jeder Schritt wegführte, weg von zuhause, weg von dem, was man kennt, was man gewesen ist. An jeder Kreuzung zunächst sich seiner selbst sicher, spontan, ohne zurückzublicken einen neuen Weg wählen – man hat ja Zeit. Mit der Zeit wird man bezüglich der Entscheidung das weitere Vorangehen betreffend, aber immer skrupulöser, immer unsicherer. Was ist denn die „richtige“ Richtung? Es kommt der Punkt an dem man nicht mehr weiter weiß: der Weg zurück ist versperrt; keine der Möglichkeiten die die Wege nach vorne bieten scheint erfolgversprechend. Und dann ist da plötzlich dieses Ziel nach dem man sich eigentlich schon immer gesehnt hat ohne wirklich zu wissen was es denn sei. Mit diesem Ziel vor Augen neu durchstarten können – das fühlt sich an wie endlich das echte Leben.

 

Vierter Dezember

 

 

Plötzlich klingt im Inneren diese Melodie. Beschwingt ist sie, so beschwingt, dass der Körper mitwiegen möchte. Der Autofahrer, der sie so rücksichtslos überholt hatte, dass sie eine Vollbremsung hatte hinlegen müssen – bereits vergessen. Ebenso die miese Laune der Leute die beim Bäcker anstehen mussten und die Verkäuferin, die wirklich schon ihr Bestes gab, anpöbelten. Auch all das andere, das ihr den Tag – bewusst oder unbewusst – schwer gemacht hatte, war mit einem Mal nicht mehr wichtig, berührte sie nicht mehr: da war diese Melodie die alles überstrahlte, die ihr den Tag hell machte. Sie betrachtet die finsteren Gesichter der Menschen, die gemeinsam mit ihr in der Stadt unterwegs sind und wünscht sich, dass auch sie die Melodie hören könnten.

Fünfter Dezember

 

 

Sie sind mein Engel gewesen!“ Diejenige, die diesen Satz beim Eintreten in ihr Büro sagte, war vor Monaten schon einmal bei bei ihr gewesen. Die Verwaltung hatte ihr damals den Besuch einer jungen Frau angekündigt. Jung war sie dann auch wirklich und schutzlos und verzweifelt, als sie mit ihrer zweijährigen Tochter auf dem Schoß bei ihr im Büro gesessen war. Und hatte sie zunächst stockend und zögernd gesprochen, brach bald aber das Reden über ihr Unglück geradezu aus ihr heraus. Ihr Mann habe plötzlich eine Haft antreten müssen. Ihr sei gleichsam der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Sie wisse, auch was die Finanzen anginge, nicht mehr aus noch ein. Und dann noch das Kleinkind dessen Betreuung sie ganz allein bewerkstellige. Es dauerte nicht lange da begann sie zu weinen. Das Reden über ihr Unglück hatte ihr dessen Ausmaß wieder überdeutlich bewusst gemacht. Die Sozialpädagogin hatte lediglich allgemeine Ratschläge geben können, hatte aber die junge Frau an Stellen, die weiterhelfen konnten, verwiesen. Heute nun stand eine strahlende Frau bei ihr, die davon erzählte, wie sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen hatte.

Sechster Dezember

 

 

Warten müssen war unerträglich. Fremdbestimmte Zeit. Wochen kamen daher wie Monate; Monate wie Jahre. Tage zu zählen, indem sie Zentimeter für Zentimeter von einem Maßband abgeschnitten wurden, wobei jeder Zentimeter für einen ganzen langen Tag stand, hatte die Zeit auch nicht schneller vorübergehen lassen. Jetzt ging es nur noch um eine Stunde. Eine lächerliche Stunde. Jede Minute davon war eine Tortur. Bis der Minutenzeiger einmal weiterrückte verging eine scheinbare Ewigkeit. Quälend langsam schneidet der Sekundenzeiger – wird er nicht immer langsamer? – Scheiben aus der bleischweren Zeit. Zeit, die einfach nicht vergehen will. Sich zwingen die Uhr aus den Augen zu lassen. Sich wegträumen dahin, wo man wieder Herr über seine Zeit ist. Und wie im Traum ist die fremdbestimmte Zeit dann doch abgelaufen: das triumphale Schlagwerk der Uhr ertönt und entlässt in die Freiheit.

Siebter Dezember

 

 

Da sitzt sie mit hängenden Schultern und gedankenverloren. Immer, ob nun die Bäume und Büsche um sie herum im zartesten Frühlingsgrün leuchten oder nur einige wenige verdorrte und entfärbte Blätter im Spätherbst sie einfassen. Eine trauernde Frau. Egal ob Ehefrau, Mutter oder Schwester: sie hat Verwandte dem Krieg hingeben müssen. Blicklos sitzt sie da auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel. Zu ihren Füßen sind Steintafeln in den Hügelfuß eingelassen. Die Namen der Gefallenen, die dort eingraviert sind sind bald nicht mehr lesbar. Nur Männernamen sind es. Die Kinder und Frauen, die dem Krieg ebenfalls zum Oper fielen, finden keine Erwähnung. Sie sitzt aber auch für diese unerwähnten Nichtmänner da. Diese Bronzefrau, die die alten Einheimischen als die Mutter des Künstlers, als Herrleschhanse Marie, identifizieren können, steht in ihrer gesamten Körperhaltung sichtbarer als all die geschriebenen und die ungeschriebenen Namen für die Botschaft jedes vergangenen Krieges: Nie wieder!

Achter Dezember

 

 

Das Zwei-Euro-Stück ist vorhin zufällig ganz unten in der Manteltasche aufgetaucht; hatte sich versteckt hinter dem zu einer festen Masse erstarrten Papiertaschentuch aus dem letzten Winter und anderen unappetitlichen Kleinigkeiten. Warum untersucht man denn nicht die Kleidungsstücke, bevor sie von frühlingshaften, vorwitzigen Sonnenstrahlen in den Kleiderschrank vertrieben werden? Kühle Temperaturen haben den Mantel nun wieder aus dem Schrank gezwungen und das Geldstück zum Vorschein gebracht. Den Müll entsorgt man. Und das Geldstück, mit dem man nicht rechnete, könnte man ja in ein Lotterielos investieren. Auf der Treppe, die in den Lottoladen führt, hat sich allerdings glitschiger Schmutz angesammelt. Und in dem Moment, in dem man hinaufsteigen will, rutscht oben eine alte Frau aus und stürzt die Treppe hinunter. Man selbst wird von ihr mitgerissen. Sie landet weich, weil sie ja oben liegt. Passiert ist nichts. Den Plan, ein Los zu kaufen, verwirft man gleich wieder. Vielleicht führt das Geldstück als Talisman ja noch einmal dazu, dass man einem anderen Schutz bieten kann.

 

Neunter Dezember

 

 

Am Horizont türmt sie sich auf: eine schwarze Wand. Dunkelheit die immer schwärzer wird je mehr man sich dem Dunkel nähert. Oder ist es das Dunkel, das immer näher kommt und alles verschlingen will? Tiefste Bedrängnis. Verzweiflung, der man sich einfach ergeben will. Hoffnungslosigkeit die dazu drängt aufzugeben um nicht mehr dem Dunkel ausgesetzt zu sein. Und dann fühlt man zunächst mehr, als man tatsächlich sehen kann: schemenhafte Strukturen in der Schwärze. Es erscheinen Umrisse von Wolken, immer deutlicher entsteht ein Lichtstreif ganz oben streng entlang der Wolkenlinie. Und plötzlich erhebt sich rot-goldglühend in voller Pracht die Sonne über die Wolken empor. Alles Dunkle, alles Schwarze ist vergangen. Im Glanz des frühen Morgens geht man optimistisch in den neuen Tag und hat die Verzweiflung über das Dunkel der Nacht schon vergessen.

 

Zehnter Dezember

 

Es hatte ihr hier nie wirklich gefallen. Kurze Sommer, lange Winter und die Zeit dazwischen regnerisch. Unwirtlich war das Wort das ihr einfiel, wenn sie an die Rhön dachte. Nun war ihr diese uralte Ansichtskarte in die Hand gefallen, in die ein Mechanismus eingebaut war der durch Drehen einer Pappscheibe Motive in zwei kleinen Guckkastenlöchern sichtbar machte. Als sie die Karte in die Hand bekam, war im oberen Fenster ein verschnörkeltes Wort zu sehen: NIX. Das dazugehörige Bild im unteren Bereich der Karte zeigte den verschneiten Kreuzberg. Ah ja, das war lateinisch für Schnee. Mochte sie nicht. Dennoch neugierig geworden drehte sie weiter. Oben war jetzt NOX zu lesen; unten ein erstaunlich kunstfertiges Bild des Klosters unter dem Sternenhimmel. Nox hieß wohl Nacht. Mochte sie auch nicht. Sie drehte weiter. Nun las sie NUX und sah einen großen Walnussbaum. Das erklärte sich ja von selbst. Mochte sie aber auch nicht. Ob da noch etwas kam?

Fortsetzung folgt

Elfter Dezember

 

 

Sie drehte weiter. NEBULAE. Da brauchte sie nicht lange nachzudenken. Ein Bild des Brendtales in dem ein dichter Nebelsee lag aus dem klar die Gipfel von Bauersberg, Holzberg, Himmeldunk, Osterburg und Arnsberg herausragten. Nebel mochte sie auch nicht. Wer kam wohl auf die Idee eine Ansichtskarte zu produzieren, in der alles, was sie an der Rhön nicht schätzte zusammengefasst war? Sie schüttelte den Kopf und drehte weiter. In viel kleinerer Schrift, was wohl der Anzahl der Wörter geschuldet war, stand da: SUNT OPTIMA MUNERA RHÖNAE. Das überstieg die Reste ihrer Lateinkünste aus lange vergangenen Schultagen. Seufzend holte sie ihr Smartphone heraus und gab die Worte in einen Übersetzter ein: „sind die besten Geschenke der Rhön“ musste sie lesen. Tatsächlich waren im zugehörigen Bild die vier vorherigen Fotomotive nochmals auf vier schön verzierten Geschenkpäckchen zu sehen. Sie musste schmunzeln und konnte mit einemmal das Geschenk, das ihr diese Karte machte, annehmen.

Zwölfter Dezember

 

 

Kurz nach Sankt Martin war das Mühlwasser nur noch ein Rinnsal. Man fragte sich, wie es in den vergangenen Jahrhunderten gleich mehrere Mühlen angetrieben haben sollte. Auf der kleinen Brücke die die zwei Grünanlagen verband, welche man nur mit sehr viel gutem Willen als Parks bezeichnen konnte, war etwas anders als sonst. Die Herrleschhanse Marie saß wie immer vor ihrer Kulisse von Büschen; nur waren die jetzt vollkommen entlaubt. November halt. Was aber war heute so anders? Die Stille! Denn neben dem Gemurmel des Baches ist alles still, wo doch im Hintergrund eigentlich das aufgeregte Schnattern von Gänsen zu hören sein sollte. In einer kleinen Feldscheune im Grüngürtel war nämlich eine große Schar von ihnen gehalten worden. Die Hühner beim Schreiner flanieren dagegen leise und zufrieden gackernd nach wie vor durch ihren graslosen von Scharrgruben durchsetzten Hof und schielen immer wieder einmal – wenigstens mit einem Auge – nach dem Hahn. Sankt Martin hatte offenbar seinen Tribut verlangt. Nicht eine Gans scheint überlebt zu haben. Mit schlechtem Gewissen denkt man an den köstlichen Gänsebraten vom Wochenende. Wie groß ist die Erleichterung am nächsten Tag, als man am geöffneten Esszimmerfenster plötzlich wieder vielstimmig die Gänse lamentieren hört.

Dreizehnter Dezember

 

 

Sie saß am geöffneten Fenster und starrte mit leeren Augen hinaus auf den Kirchplatz, wo die Bäckergesellen der gegenüberliegenden Bäckerei lange Brotstollen aus einem Hintereingang heraus über ausgetretenes Pflaster nach vorne zum Verkaufsraum trugen. Mit ihrem verkürzten linken Bein könnte sie selbst diese Aufgabe niemals erfüllen. Aber irgendeine passende Arbeit würde sie sich jetzt wohl suchen müssen. Ihre kleine Rente hatte wohl für ihren Lebensunterhalt ausgereicht – für eine zusätzliche Wohnung konnte sie nicht reichen. Denn die Wohnung, in der sie lebte und die ihr von ihrem Geliebten aus jüngeren Tagen in seinem Haus kostenfrei überlassen worden war, konnte sie nicht behalten. Nach seinem Tod vor wenigen Monaten hatten seine Erben das Regiment übernommen. Mittlerweile war das Haus an ein junges Zahnarztehepaar verkauft, das ihr schon die Eigenbedarfskündigung hatte zustellen lassen. Der Postbote reichte ihr von der Gasse aus einen Brief hinauf. Sie öffnete das Kuvert, las zunächst gleichgültig, dann mit geröteten Wangen: Ein neues Testament war aufgetaucht das ihr lebenslanges Wohnrecht in der Wohnung garantierte.

 

Vierzehnter Dezember

 

 

Nachdenklich streift sein Blick über die Buckel und Erhebungen, die die Auffahrt vor seinem Haus in eine Reliefkarte verwandeln, wie er sie zuletzt im Geografieunterricht der Schule gesehen hat. Egal, ob der Bodenbelag aus Pflastersteinen besteht oder ein Stück weiter unten aus einer asphaltierten Fläche – irgendetwas hat die Kunst der Bauarbeiter, die stolz darauf gewesen sind dem Bauherrn ebene Flächen zu liefern, zerstört. Wie organisch gewachsen wirken die Erhebungen, und tatsächlich ist etwas lebendiges für sie verantwortlich: ein stattlicher Baum der seitlich im Vorgarten emporragt. Das Wunder, gegen die Schwerkraft Wasser nach oben zu transportieren und dabei jedes Blatt auch an den kleinsten Zweigen mit Nährstoffen versorgen zu können, schafft er nur mit mächtigen Wurzeln. Wurzeln die dann Asphalt sprengen und Steine anheben können. Lächelnd schaut er an dem mächtigen Stamm hoch. Seine Füße würden sich schon an die Reliefkarte gewöhnen.

Fünfzehnter Dezember

 

 

Mürrisch in der Wohnung herumtigern. Egal aus welchem Fenster man auch schaut: überall dasselbe Bild. Schlechtes Wetter wäre noch untertrieben. Regentropfen klopfen an die Fenster, bilden Rinnsale, die nach unten fließen und die Welt draußen in ein eigenartiges Raster teilen. Wolkenfetzen treiben am Himmel und die Bäume biegen sich im Wind der pfeifend durch die Ritzen der alten Fensterrahmen dringt. Radio und Fernseher bieten kein Programm das die Laune anheben könnte. Kurzentschlossen die Stiefel aus dem Keller geholt und den alten Regenmantel inklusive Kapuze bis oben hin zugeschnürt. Hinaus in die Unbill der Natur. Die ersten Minuten ist es grausig. Dann aber bläst der Wind den Kopf frei. Es macht unglaublich Spaß lachend gegen den Wind anzukämpfen und das Brausen des Windes, das jedes andere Geräusch übertönt, in allen möglichen Variationen wahrzunehmen. Hatte man nicht noch vor einer Stunde über das schlechte Wetter nur gejammert?

Sechzehnter Dezember

 

 

Der Bruder vom Kreuzberg hatte sich gut vorbereitet. Am Wasserspielplatz sollte ein Friedensgebet stattfinden. Eine mobile Lautsprecheranlage und schöne Tücher für den improvisierten Altartisch hatten neben einer ausreichenden Anzahl von Gebetbüchern mit zeitgemäßen Texten und Psalmen im Kofferraum des ordenseigenen Fahrzeugs Platz gefunden. Selbst einen Gitarristen hatte er engagiert. Die Teilnehmeranzahl an der Veranstaltung ließ zu wünschen übrig. Aber etwa 20 Meter entfernt hatte sich ein scheinbar Obdachloser auf einer der Parkbänke niedergelassen. Neben ihm parkte ein Fahrrad, das zum Transport seiner Habseligkeiten über offenkundig sehr aufnahmefähige Satteltaschen verfügte. Da der Mann sich ohnehin am Platz des Gebetes aufhielt, händigte der Bruder ihm, wie allen anderen Teilnehmern der Andacht, eines der mitgebrachten Textbücher aus. Die Veranstaltung nahm ihren Lauf – der Obdachlose aber auch: als der Bruder nach dem Gebet die Textbücher wieder einsammeln wollte, war von ihm nichts mehr zu sehen. Die Hoffnung, das Gebetbuch zurückzubekommen gab er schnell auf, nicht aber die Hoffnung, dass die Texte dem Obdachlosen Segen bringen mögen.

Siebzehnter Dezember

 

 

Der Nachbarsjunge klingelte und wollte spielen. Er war ein schwieriges Kind aus einer schwierigen Familie. Sie nahm sich Zeit für ihn und fand ein Spiel in dem er seine Kenntnisse aus der ersten Klasse gut einbringen konnte. So stolz war er darüber, dass er am nächsten Tag mit seiner Mutter wiederkam und ihr die Ergebnisse präsentierte. Für einen anstehenden schulfreien Tag wollte er wiederkommen. Sie stimmte zu unter der Voraussetzung, dass er bei ihr zunächst seine Hausaufgaben erledigen solle. Er wurde mit dem Auto gebracht. Dort saß er als heulendes Bündel Elend. Er wolle bei ihr nur! spielen. Gut, dann solle die Verwandte die Schulsachen wieder mitnehmen. Aber die Hausaufgaben müssten doch irgendwann gemacht werden. Kurze Denkpause. Dann nehme er die Hausaufgaben halt doch mit aus dem Wagen. Kurze Zeit später saß er am Tisch und die Hausaufgaben stellten – mit der Aussicht auf die nachfolgenden Spiele – vielleicht zum ersten Mal überhaupt kein Problem für ihn dar.

 

Achtzehnter Dezember

 

 

Der Klimawandel, den man so schlecht selbst feststellen konnte – man selbst erlebt ja immer nur das Wetter und nie das Klima – hatte die Landwirtschaft in den letzten Jahren schwieriger gemacht. Wo man früher höchstens darüber gejammert hatte, dass ausgerechnet beim Silieren sommerliche Schauer die Arbeit störten, oder dass im Frühling in der Wachstumsphase zu wenig Niederschlag gefallen sei, hatte sich das nun radikal geändert. Bauern jammerten ja sowieso immer über das Wetter, das war eine Ansicht, die in der Bevölkerung weit verbreitet war. In diesem Jahr aber gab es tatsächlich Anlass zu Sorge. Zu niedrige Grundwasserspiegel in Folge der regenarmen Vorjahre machten den Ackerbau zu einem Roulettespiel. Für einen Biomilchbauern wie ihn, der auf den Ertrag seiner eigenen Flächen angewiesen war, ging es darum, ob er seine Herde nicht verkleinern musste: Verkleinern hieß Metzger. Wie froh war er daher über den regenreichen Sommer, der von einem noch regenreicheren Herbst abgelöst wurde.

Neunzehnter Dezember

 

 

Sie liebte es auf der Bank vor ihrem Haus zu sitzen. Im Sommer, wenn es zu heiß war und die Sonne herunterbrannte, wechselte sie auch einmal die Straßenseite und ließ sich auf der Treppe zur ehemaligen Arztpraxis nieder. Früher, als ihr Mann noch gelebt hatte, hatte man sie immer zu zweit hüben oder drüben sitzen sehen können. Die Bank steht an der wichtigsten Straße des Städtchens. Keiner der zum Marktplatz will, oder von dort kommt, kann ungesehen an ihr vorüber kommen. Einsam fühlt sie sich dort nie – kann sie doch von ihrem Beobachtungsposten gewissermaßen am Leben der Passanten teilhaben. Und außer den Touristen kennt sie auch jeden. Dabei ist sie keine Schlappgosche die sich über irgendjemanden auslässt. Meist umspielt ein Lächeln ihre Lippen. Sie gehört zum Inventar der Stadt. Es ist tröstlich, dass sie da sitzt.

Zwanzigster Dezember

 

 

Allen war klar, dass Josef nicht mehr der jüngste Hund war. Die Agilität seiner jüngeren Jahre hatte er schon lange verloren. Der alte Braumeister, der ihn jeden Morgen versorgt und den ersten Spaziergang des Tages mit ihm unternommen hatte, war verstorben. Nun hatte man den Eindruck, dass er noch etwas langsamer als zuvor, ja fast widerwillig, mit wechselnden Begleitern seine Pfade um das Kloster herum absolvierte. Pater Georg, der jetzt zum wichtigsten Menschen in Josefs Hundeleben geworden war, machte sich Sorgen. Natürlich war ihm klar, dass jedes Leben endlich war und dass die Gebrechen des Alters auch vor einem Tier nicht haltmachten. Dennoch wünschte er sich die Zeiten zurück, in denen nicht ganz klar gewesen war, ob der Mensch mit dem Hund oder der Hund mit dem Menschen unterwegs gewesen war. Als allerdings der erste Schnee gefallen war, staunte der Pater nicht schlecht über die Wirkung des frischen Neuschnees auf Josef: der sprang herum wie ein junger Hund, wälzte sich in der weißen Pracht, war aktiv wie lange nicht. Ob es auch für Menschen eine solche Verjüngungskur gab?

 

 

Einundzwanzigster Dezember

 

 

Schon als Kind war der Prinz so linkisch und tollpatschig gewesen, wie kein anderes Kind im Reich seines Vaters, wenn man den Quellen glauben konnte. Warum sollte man ihnen auch nicht glauben? Man befand sich immerhin in einem Märchen. Und weil es sich um ein Märchen handelte, war es nur folgerichtig, dass er vom Prinzen zum König wurde. Es gab keine Yellow Press die die Entwicklungen im Königshaus kritisch begleitete und dafür sorgte, dass ein unpassendes Mitglied der royalen Familie im Zweifel verstoßen und nach Amerika verbannt wurde. Aber da Märchen meist gut ausgehen, musste es natürlich auch für diesen besonderen König, der alles, was man nur falsch machen konnte, auch falsch machte, eine Lösung geben. Es gab da eine Wendung in seinem Leben die ihm, dem Pechvogel, zu einem der glücklichsten Menschen der Welt machte. Es fand sich eine Frau für ihn, die alle seine Patzer ausglich, die alle Menschen, die er falsch behandelt hatte mit ihrem großen Herzen wieder für die royale Familie gewinnen konnte und die so dafür sorgte, dass sein Volk in ihm einen weisen, großherzigen und kompetenten Herrscher sah, den es gern über sich duldete. Natürlich klappt so etwas nur im Märchen. Oder?

Zweiundzwanzigster Dezember

 

 

Er war einer der größten Adventsmärkte im Landkreis. Der Nikolaus kam auf einem Hundeschlitten vorgefahren, eine mobile Blaskapelle spielte virtuos adventliche Musik und auch die hohe Kultur kam mit Konzerten und Lesungen im Gemeindezentrum und in der Dorfkirche nicht zu kurz. Professionelle Holzschnitzer und Drechsler boten sowohl am langgestreckten Markt als auch in verschiedenen Werkstätten und Hinterhöfen ihr Kunsthandwerk an. In einem Hof befand sich die größte Verpflegungsstation des Marktes. Dicht an dicht drängte sich hier alles was dem leiblichen Wohl der Besucher dienen konnte. Und wirklich schob sich eine vom riesigen Angebot von Weihnachtsdekoration erschöpfte Menschenmenge gierig durch den Hof und konsumierte befriedigt etwas handfesteres als Holzsternchen und beleuchtete Engel. In der hintersten Ecke hatte sich eine junge Frau einen Stand erkämpft. Auf einem Tischchen hatte sie fantasievoll selbstgemachte bunte Tonfiguren und Zeichnungen aufgebaut. Sie saß dahinter, keck die Nase aus dem großen Schal herausgestreckt und betrachtete das Gewusel um sich herum. Sie konnte nicht viel verkauft haben, das sah man an den vielen Artefakten, die den Tisch noch bevölkerten. Dennoch wirkte sie selbstbewusst und fröhlich. Offensichtlich reichte es ihr, Teil des großen Ganzen zu sein, glücklich damit ihr Werk einem größeren Publikum präsentieren zu dürfen, als nur der Familie.

Dreiundzwanzigster Dezember

 

 

Eigentlich war alles die Schuld ihres Mannes gewesen. Der hatte ausgemistet. Er hatte Aktenordner, die seit Jahren im Keller den Schlaf des Gerechten schliefen, schreddern lassen. Man solle die Nachkommen nicht mit langweiligen Schriftsätzen behelligen, war seine Meinung gewesen. Und außerdem könnten später ja Dinge ans Licht kommen, von denen man das nicht wollte. Sie hatte sich dummerweise von ihm davon überzeugen lassen es ihm gleichzutun. Unter den vernichteten Dokumenten war auch der Ordner gewesen, in dem sie all die handschriftlichen Rezepte aufbewahrte, die sie im Laufe vieler Jahre gesammelt hatte. Für Weihnachten hätte sie gern Vanillekipferl nach dem Rezept einer lange verstorbenen Nachbarin gebacken. Leider war es mit den anderen Rezepten vernichtet worden. Die Tochter der Nachbarin, die sie telefonisch um Hilfe bat, wusste nichts von einem solchen Rezept. Ihrem Sohn erzählte sie verärgert und betrübt über ihren Verlust. Der dachte an ein Weihnachtsgeschenk das er vor etwa 20 Jahre von seiner Mutter bekommen hatte: einen Ordner, in dem sie ihre Lieblingsrezepte in Schönschrift eingeordnet hatte. Tatsächlich fand sich darin das gesuchte Rezept. Ihre Vanillekipferl waren gerettet.

 

Vierundzwanzigster Dezember

 

 

Er hatte einen langen und anstrengenden Tag am Schreibtisch hinter sich. Einen Moment lang stützte er seinen Kopf auf seine Hände und schloss die Augen. Für heute hatte er genug gearbeitet. Er erhob sich und blickte zum Bürofenster hinaus. Auf der Straße draußen sah er lachende Kinder in Halloweenkostümen von Tür zu Tür ziehen. Wenn er genau hinhörte, konnte er sogar ihr helles „Süßes oder Saures“ wahrnehmen, mit dem Geschenke eingefordert wurden. Er seufzte erschöpft und wandte sich wieder seinem Computer zu um ihn herunterzufahren und endlich in seinen wohlverdienten Feierabend zu gehen. In diesem Moment erschien vor der Glasfront, an der seine Klientinnen sich normalerweise anmeldeten, eine zierliche Frau die ganz in Schwarz gekleidet war. Die Frau strahlte ihn an, und während er sich noch innerlich darüber erregte, dass auch er von Halloween nicht verschont bleiben konnte, hob sie etwas in die Höhe und winkte ihm damit zu. Ein Teil der Glasfront bestand aus einem Fenster, das er nun öffnete. Immer noch strahlend überreichte ihm die Frau ein selbstgemachtes Gesteck und bedankte sich wortreich für die Hilfe, die ihr von den Mitarbeitern seines Büro zuteil geworden war.

Allen Lesern ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest - und bis nächstes Jahr!

 

Ach ja - und nie die Hoffnung verlieren!

Kommentare: 5
  • #5

    Natalia (Dienstag, 26 Dezember 2023 17:08)

    Danke das du es mit uns teilst, ich habe es wieder sehr genossen, manche irrinern uns an sich selbst, manche an die Mitmenschen und die anderen zeigen uns wie die kleinen Dinge dieser Welt so schön sein können, auch wenn wir die nicht gleich sehen können, oder einfach vergessen haben was die uns in Wirklichkeit bedeuten.
    Danke

  • #4

    Barbara Söder (Freitag, 22 Dezember 2023 09:00)

    Lieber Peter, wie immer ein wundervoller Weihnachtskalender .
    Jeden Tag warte ich schon voll Spannung, dass eine neue erscheint.
    Ich wünsche dir und deiner Familie ein frohes gesegnetes Weihnachtsfest.
    Gesundheit Glück und Segen für 2024.

    Vielen Dank �

  • #3

    mtb (Dienstag, 19 Dezember 2023 14:16)

    Lieber Geschichtenerzähler, deine Beobachtungen machen mich glücklich - gerade die vom 19. Dezember finde ich wieder sehr tröstlich. Du hast eine schöne Art unvoreingenommen von Menschen zu erzählen. Ich hoffe, dass auch andere Leser sich davon berührt fühlen.

  • #2

    Sabine (Mittwoch, 13 Dezember 2023 01:18)

    Ich bin auch wieder ganz glücklich über den Moment der Ruhe, den mir das Lesen der schönen Adventsgeschichten jeden Tag beschert. Besser als Schokolade hinterm Türchen :-)

  • #1

    Ingrid Tottmann (Sonntag, 10 Dezember 2023)

    Sehr schön zu lesen! Mir gefällt ganz besonders der Schriftstil.