Adventskalendergeschichte 2021

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

ich schenk' Dir eine Geschichte. Eine Geschichte von einem kleinen Licht. Ich hoffe sie kann Dein Herz ein wenig heller machen.

1. Dezember

Ein kleines Licht war in die Welt gekommen. Es war wirklich ein sehr kleines Licht. Deshalb fürchtete es sich ein bisschen und hoffte darauf, bald andere Lichter seiner Art zu treffen. Nicht jedes Licht war nämlich so wie dieses kleine Licht. Nicht einmal der größte Strahler am Flughafen, der Fliegern die Bahn zur Landung wies, und deswegen sicher das stärkste menschengemachte Licht war, konnte es mit ihm aufnehmen. Auch nicht die hellgleißenden Neonröhren in den Fabriken. Und all die vielen Glühbirnen in den Häusern auch nicht. Das Geheimnis des kleinen Lichtes war ganz einfach: es war lebendig. Das kleine Licht wusste, dass es ganz besondere Menschen finden musste, um Lichter, die so waren wie es selbst, zu treffen. In alten Zeiten, so hatte es gehört, hatten in den Herzen aller Menschen lebendige Lichter gebrannt. Im Laufe der Zeit hatten sich aber die Menschen verändert. Wenn nämlich ein Mensch auf die Stimme seines Herzens hörte, dann konnte das Licht in seinem Herzen fröhlich leuchten. Leider war es bei den Menschen irgendwann aus der Mode gekommen auf ihre Herzen zu hören. Zu laut waren andere Stimmen geworden, die die Stimme des Herzens übertönten. Zu groß waren andere Verlockungen, die in die Welt gekommen waren um die Menschen dazu zu bringen ihnen zu erliegen. Und so waren bei immer mehr Menschen die lebendigen Lichter im Herzen immer kleiner und schwächer geworden und schließlich erloschen. Vielleicht würde es Menschen finden, in deren Herzen noch ein starkes lebendiges Licht brannte. Aber selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, hoffte es darauf, in einigen Herzen noch glimmende Reste zu finden, die es wieder zum fröhlichen Flackern bringen wollte. Es hatte noch keinen Plan, wie es das anstellen sollte, doch sicherlich würde ihm etwas einfallen. Oder etwa doch nicht?

2. Dezember

Dort, wo es angekommen war, befand sich eine große Stadt mit allem, was zu so einer großen Stadt gehört. Da gab es Häuser die hoch in den Himmel ragten. Und welche, die sich ganz tief in dunkle, enge Gassen duckten. Es gab breite Straßen auf denen alle möglichen Fahrzeuge unterwegs waren. Selbst unter der Erde fuhren die Fahrzeuge. Dazu hatte man große Röhren in die Erde gebohrt. Entlang der Straßen gab es oft große Bäume. Ab und zu sah man sogar einen Park mit weiten Wiesenflächen, Gebüschen und Baumgruppen die um Seen mit Wasserfontänen herumstanden. Natürlich gab es in der großen Stadt auch Tiere; die größten waren in Gehege in einem Zoo gesperrt worden. Woanders hoben Hunde an Zaunpfosten ihre Beine, Katzen versuchten Vögel, Mäuse und Ratten zu fangen und Insekten und Spinnen hatten große Teile der Stadt für sich erobert. Das alles sah das kleine Licht, und obwohl das alles sehr interessant war, suchte es ja neben diesem allem eigentlich etwas anderes. Jemand anderen, wenn man genau sein wollte. Und wirklich: Neben allem anderen gab es natürlich auch unwahrscheinlich viele Menschen. Überall konnte man sie sehen. Sie saßen auf Stühlen und Sesseln vor Cafés, in Gaststätten und in Büros. Sie liefen kreuz und quer durcheinander. Sie fuhren mit der Straßenbahn, mit dem Fahrrad, mit dem Bus oder mit dem Auto. Sie standen auf Rollern und auf Rolltreppen oder in Aufzügen. Sie lagen auf dem Sofa oder im Bett. Das kleine Licht konnte all dies sehen, denn Mauern oder geschlossene Vorhänge waren für es kein Hindernis. Zur Zeit der Ankunft des kleinen Lichtes wurde es langsam düster und deshalb gingen überall viele Lampen an. Im Gegensatz zum lebendigen Leuchten des kleinen Lichtes war deren Licht aber seelenlos. 

 

3. Dezember

Weil es aber so viele Menschen gab, war das kleine Licht verwirrt und wusste nicht, welchen einzelnen Menschen es aus der großen Menge aussuchen sollte. Zu groß war das Gewimmel. Es gab Dicke und Dünne, Große und Kleine, Alte und Junge, Starke und Schwache. Es gab Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Die teilten sich auch noch auf in männliche und weibliche Wesen. Und vielleicht auch noch in etwas, das dazwischen lag. Das war ja ein ganz schön großes Durcheinander. Wenn im Herzen eines Menschen ein lebendiges Licht leuchtete, würde sich das in dessen leuchtenden Augen widerspiegeln. Soviel wusste das kleine Licht. Da aber jetzt viele Lampen sowohl drinnen, als auch draußen leuchteten, konnte das kleine Licht nicht mit Sicherheit sagen, ob es nur am Widerschein der Lampen lag, oder ob das Leuchten aus dem Inneren der Menschen kam. Das war nun wirklich eine verzwickte Situation. Es beschloss, auf den „Augentest“ zu verzichten und sich auf sein Gefühl zu verlassen. Jetzt ging es darum einen möglichst einzelnen Menschen zu finden. In den Straßen war ihm zu viel los. Daher schaute es in die Häuser hinein. Auch hier waren überall zu viele Menschen zu sehen. Das kleine Licht flog nach oben, um sich einen Überblick zu verschaffen. Und wirklich hatte es hier Glück: Ganz oben in einem der höchsten Häuser saß ein Mensch in einem Raum mit riesigen Fenstern alleine an einem Schreibtisch. Den wollte es näher betrachten. Schnell war es im Inneren des Büros. Wertvolle Teppiche lagen auf dem Boden und große Gemälde schmückten die Wände. Auch die restliche Einrichtung sah kostbar aus. „Nun aber hurtig ans Werk“, schimpfte das kleine Licht mit sich selbst, weil es sich von der Schönheit der teuren Dinge hatte ablenken lassen und begab sich in das Herz des Mannes am Schreibtisch. Genauso, wie Mauern oder Gardinen kein Hindernis für das kleine Licht waren, konnte es auch in den Körper eines Menschen schlüpfen. 

4. Dezember

Das kleine Licht sah sich in der dunklen Herzkammer des Mannes um. Durch sein eigenes Leuchten verblasste die überall herrschende Dunkelheit dort, wo es hinsah. So konnte es leicht erkennen, was dieser Mensch tief in seinem Herzen trug. Es schaute; es drehte und wendete sich, schaute nach oben, nach unten, nach links und nach rechts, vor sich und hinter sich. Dabei wurde es immer trauriger. Es fehlte nämlich das, was es im Herzen eines Menschen eigentlich erwartet hätte. Weil kein anderer zum Reden da war, sprach es mit sich selbst: „Es ist seltsam,“ murmelte es vor sich hin, „hier gibt es keine Freunde, keine Familie, keinen Sonnenaufgang am Meer und keine Blumen.“ Nach einem weiteren Blick fuhr es fort: „Ich höre keine Musik, fühle nicht den kleinen kühlen Windhauch, der an heißen Tagen Linderung bringt; die heiße Tasse Tee an einem kalten Wintertag fehlt ebenso wie die Freude am Leben überhaupt.“ Alles was es sah war Geld. Berge von Münzen sah es. Runde und eckige, große und kleine, welche mit Loch und welche ohne, einfarbige und zweifarbige und auch Banknoten aus allen Teilen der Welt in allen erdenklichen Farben. In dicken Geldbündeln häuften sie sich ebenso auf wie Aktienpakete. Goldbarren und glitzerndes Geschmeide glänzten zwar, doch war ihr Glanz kalt und ließ das kleine Licht frösteln. Hier war es falsch; dessen war es sich sicher. In diesem Menschenherzen brannte in einem eisig kalten Feuer bestenfalls der gierige Wille immer noch mehr zu besitzen. Ein lebendiges Licht würde sich hier keinesfalls finden lassen. Bei diesem Gedanken fröstelte das kleine Licht noch mehr und bemerkte bestürzt, dass es sich schwächer fühlte, als jemals zuvor in seinem Leben. Um sich nicht selbst in Gefahr zu bringen, sollte es keinen Moment länger hier bleiben. Das kleine Licht verließ den Mann. Der hatte nicht einmal gemerkt, dass es in seinem Herzen kurzzeitig ein wenig heller geworden war.

 

5. Dezember

In einem weiten Bogen sprang das kleine Licht aus dem obersten Stockwerk des Hochhauses. Auf dem Weg nach unten bemerkte es gerade unter sich eine leuchtende Straßenlaterne. Mit deren Schein wollte es verschmelzen, um unbemerkt von Menschen nachdenken zu können, wie es weiter vorgehen sollte. Es versteckte sich also im Licht der Laterne. Zum Nachdenken kam es aber gar nicht. Denn im Lichtkegel der Lampe auf dem Gehweg war ein Junge damit beschäftigt, seinen Fußball möglichst lange in der Luft zu halten. Dabei war er sehr geschickt. Immer wieder traf der Ball auf einen Fuß, den Kopf oder den Oberkörper des Jungen, sprang in die Höhe und wurde wie von einem unsichtbaren Faden erneut zum Körper des Jungen zurück gezogen. Bei jedem Kontakt mit dem Ball strahlte der Junge. Trotz der Helligkeit der Straßenlampe meinte das kleine Licht einen Widerschein seiner selbst in den Augen des Jungen zu sehen. Es setzte sich auf den Ball, als dieser einmal ebenso hoch wie die Laterne stieg. Mit dem Ball gemeinsam berührte es den Jungen und schlüpfte in sein Herz. Wie groß war der Unterschied zur Herzkammer des ersten Menschen, den es besucht hatte. Dort hatte Dunkelheit geherrscht. Das kleine Licht hatte nur durch sein eigenes Leuchten sehen können, was im Herzen angehäuft war. Hier aber waren große Bereiche des Herzens durch lebendiges Licht hell und strahlend. Dinge, die Menschen im Herzen tragen, können sprechen. Das muss man wissen. „Mein Mensch,“ sagte der Ball, den das kleine Licht an der hellsten Stelle des Herzens entdeckte, und der dem Fußball draußen außerordentlich ähnlich sah, „mein Mensch leuchtet von innen, weil er niemanden anderen braucht, der ihn lobt. Der findet sich selbst gut.“ „Menschen müssen sich selbst mögen, um leuchten zu können,“ merkte sich das kleine Licht.

 

6. Dezember

Natürlich war das kleine Licht sehr froh, schon ein weiteres Licht seiner Art gefunden zu haben. Anders, als mit dem Ball, sprach es aber nicht mit dem Licht im Herzen des Jungen. Lichter reden nie miteinander. Sie sind viel zu beschäftigt damit, alle Farben des Universums in immer neuen Kombinationen zusammenzusetzen. Manchmal scheinen sie rötlich, manchmal bläulich oder grünlich oder in jeder anderen erdenklichen Farbe. Wenn es ihnen gelingt, wirklich alle Farben miteinander zu kombinieren, entsteht ein strahlendes Weiß. Danach streben sie immer und nie würde ein Licht es wagen, ein anderes bei diesen komplizierten Prozessen zu stören. 

Als sich nun plötzlich etwas in ihrer Umgebung änderte, hielt sich das kleine Licht deshalb weiter an den Ball. Was sich verändert hatte? Das Leuchten im Herzen flackerte plötzlich unsicher und strahlte lange nicht mehr so hell, wie zuvor. Was war passiert? Wenn der Ball Schultern gehabt hätte, hätte er mit ihnen gezuckt. So sagte er nur gleichmütig: „Das passiert manchmal.“ „Aber warum geschieht das? Mag der Junge sich jetzt plötzlich nicht mehr?“, wollte das kleine Licht wissen. „Schau einfach draußen nach“, erwiderte der Ball lakonisch. Das kleine Licht schwang sich wieder auf die Straßenlampe. Der Junge war nicht mehr alleine. Er versuchte den Ball immer noch geschickt unter Kontrolle zu halten, doch ein größerer Jugendlicher, der bei der Lampe stehengeblieben war, spottete über die Kunststücke, die der Junge mit dem Ball vollführte. Noch tanzte der Ball zwar, aber immer öfter musste der Junge mit den Händen eingreifen, was vorher nicht nötig gewesen war. Mit jedem geringschätzigen Kommentar des Älteren wurden die fließenden Bewegungen des Jungen unsicherer, immer wieder sprang der Ball davon, bis die fast magische Bindung zwischen dem Jungen und dem Ball zerstört war. Nichts wollte dem Jungen mehr gelingen. Er kauerte schließlich, den Ball in seinen Armen geborgen, mutlos an der Laterne.

7. Dezember

Der Junge blieb reglos sitzen, während der Größere mit einem hämischen Lachen weiterging. Mitleidig näherte sich das kleine Licht dem Jungen und hätte ihn gern getröstet. Wenn es aber zu finster in einem Menschen ist, kann auch das hellste Licht diese Dunkelheit nicht so leicht durchdringen. Wie es wohl jetzt im Herzen des Jungen aussehen mochte? Das kleine Licht sank erneut in die Herzkammer des Ballspielers um herauszufinden, was dort angerichtet worden war. Düster war es geworden. Die dunklen Bereiche, die ihm bereits bei seinem ersten Besuch aufgefallen waren, wirkten fast schwarz. Schwach nur schimmerte ein Rest des lebendigen Lichtes das vorher große Teile des Herzens ausgefüllt hatte. Der Ball, der immer noch im Herzen des Jungen lag seufzte: „Soweit kann es kommen, wenn im Herzen erst einmal Zweifel gesät worden ist.“ „Aber der Zweifel lügt ihn doch an“, erwiderte das kleine Licht, „er war doch gut in seinen Kunststücken!“ „Vielleicht ist das das Wesen des Zweifels?“ überlegte der Ball. „Er entwurzelt das Selbstbewusstsein ohne dass es einen echten Grund dafür gibt. Ich bin mir sicher, dass der Jugendliche, der meinen Menschen verspottet hat, selbst nicht so gut mit dem Ball umgehen kann. Nur aus Neid hat er den Jungen schlechtgemacht. Der fühlt sich jetzt klein und unfähig, obwohl er es doch besser wissen müsste. Mach doch du das Licht hier im Herzen wieder stärker, damit der Junge wieder selbstbewusst und stark sein kann!“ Traurig sagte das kleine Licht, wobei es selbst ein wenig dunkler wurde: „Das kann ich nicht! Nur die Menschen selber können ihr lebendiges Licht heller machen.“ Der Ball meinte nachdenklich: „Dann hoffe ich, dass mein Mensch bald seine Zweifel hinter sich lassen kann.“ „Menschen müssen ihre Zweifel hinter sich lassen, um leuchten zu können“, merkte sich das kleine Licht.

8. Dezember

Das kleine Licht zog weiter. Obwohl schon später Abend war, herrschte auf den Straßen noch sehr viel Verkehr. Zwischen all den schnellen Fahrzeugen fiel ihm ein ganz besonderes Auto auf. Mit seinen geschwungenen Formen und viel Chrom war es sicher viel älter als all die anderen – langsamer war es auf jeden Fall. Es war nun nicht so, dass dem kleinen Licht die Schnelligkeit der anderen Fahrzeuge Probleme bereitet hätte: schließlich gibt es im ganzen Universum nichts schnelleres als die Lichtgeschwindigkeit. Aber es suchte ja besondere Menschen. Es könnte ja sein, dass in einem besonderen Fahrzeug auch ein besonderer Mensch saß. Kurz entschlossen enterte es, um unentdeckt zu bleiben, mit dem Lichtreflex eines Autoscheinwerfers im Rückspiegel das Auto. Glänzendes Holz, viel edles Leder und silbern schimmerndes Metall waren im Wagen überall zu sehen. Am Steuer saß eine Frau mit Lederhandschuhen. Äußerst vorsichtig bewegte sie ihr Fahrzeug im Verkehr vorwärts. Obwohl sie besorgt aussah, lächelte sie und tätschelte ab und zu das Armaturenbrett. Das kleine Licht glitt in das Herz der Dame, wo es nicht nur auf ein Abbild des Oldtimers, sondern auf viele wertvolle Dinge stieß. Kostbare Teppiche waren neben Antiquitäten und echten Gemälden zu sehen. Jedes der verschiedenen Dinge war von Strahlenkränzen aus Licht umgeben. Diese Menschin liebte offensichtlich das Schöne und Wertvolle. Bei dem Balljungen war dem kleinen Licht schon aufgefallen, dass es in dessen Herzen von Anfang an dunkle Bereiche gegeben hatte, selbst als dieser noch von sich selbst überzeugt war. In diesem Herzen war es so, dass an die Strahlenkränze unmittelbar schwarze dunkle Wolken anschlossen und sie ringsum umgaben. Es schien fast so, als wolle die Dunkelheit das Licht verschlingen.

 

9. Dezember

Das kleine Licht bestaunte die Lichtblasen um die Dinge, die von undurchdringlicher Dunkelheit umgeben waren. Die Helligkeit endete jeweils so abrupt an der Grenze zur Dunkelheit, als stünde dort eine schwarze Wand. Einen der alten Teppiche fragte das kleine Licht: „Was hat es mit dieser Dunkelheit auf sich?“ „Hm“, räusperte sich der Teppich, „das ist keine einfache Frage, die du mir da stellst. Hm. Darf ich dir eine Gegenfrage stellen? Hm.“ Das kleine Licht stimmte zu. „Was weißt du denn überhaupt über die dunklen Ecken in den Herzen der Menschen?“ war die Gegenfrage. „Eigentlich überhaupt nichts“, antwortete das kleine Licht, „wir Lichter wissen nur vom Hellen, denn da wo wir sind, ist keine Dunkelheit.“ „Hm, hm“, war vom Teppich zu vernehmen, „Hm hm hm. Du bist ja ein schwerer Fall!“ „Dein Geräusper und dein ge'hm'e nerven mich“, ärgerte sich das kleine Licht. „Kannst du nicht mal auf den Punkt kommen?“ „Ist ja schon gut“, lenkte der Teppich ein. Und ganz ohne Geräusper fuhr er fort: „Du kennst natürlich deine große Schwester, die Sonne.“ Das kleine Licht nickte. „Nehmen wir an sie scheint auf einen Baum. Einen schönen großen grünen Baum, der mitten auf einer Wiese steht. Da, wo sie ihn bescheint, setzt sie ihm kleine Glanzlichter auf. Dort wirken seine Blätter, obwohl sie grün sind, ganz hell und seine Äste und Früchte leuchten aus dem Grün heraus. Auf der anderen Seite schon sieht das völlig anders aus. Das Grün der Blätter wirkt dunkler und Äste und Früchte sieht man vielleicht nur noch schemenhaft. Und im Gras der Wiese auf jener Seite entsteht ein dunkler Schatten als genaues Abbild des Baumes. Nichts im Schatten ist mehr bunt, alle Farben, das Rot der Früchte, das Grün der Blätter und das Braun des Stammes und der Äste sind schwarz. Was ich sagen will:“, schloss der Teppich, „Wo Licht ist, ist auch Schatten.“

10. Dezember

Was hat das mit meiner Frage zu tun?“, wollte das kleine Licht wissen. „Ganz viel“, bekam es zur Antwort. „Der Schatten ist zunächst einmal etwas ganz natürliches. Wenn jemand sich zum Beispiel auf seiner Lichtseite selbst gut findet, besteht das Risiko, dass er auf der dunklen, der Schattenseite, andere vielleicht nicht ganz so gut findet. Das ist eine Gefahr. Wenn man sie kennt, kann man versuchen die Schattenseite zurückzudrängen. Jemand der sich selber gut findet muss immer darauf Acht geben, dass er oder sie andere tief im Herzen nicht schlecht macht und hochmütig wird. Daneben gibt es Menschen mit richtig dunklen Geheimnissen im Herzen, von denen keiner etwas weiß und die sie sich selbst vielleicht gar nicht eingestehen. Ein solch dunkles Geheimnis kann der Neid sein. Der frisst sich ganz langsam und unmerklich ins Herz und kann es verdunkeln. Es gibt den Kranken, der allen Gesunden ihre Gesundheit neidet. Die Familie, die den Nachbarn das schöne große Haus nicht gönnt. Es gibt Menschen, die die Politiker um ihre Macht, die Musiker um die Zuneigung der Fans und Bergbewohner um ihre schöne Aussicht beneiden. Da können alle Menschen jeweils ganz eigene dunkle Ecken im Herzen haben. Die machen es dem Licht schwer, sich festzusetzen und zu leuchten.“ „Menschen müssen um ihre dunklen Ecken im Herzen wissen, um leuchten zu können“, merkte sich das kleine Licht.

 

11. Dezember

Meine Menschin ist ein ganz besonderer Fall“, fuhrt der Teppich fort. „Doch gibt es in der Welt viele wie sie. Sie erfreut sich an Dingen und ist froh, sie zu besitzen. Deswegen lächelt sie auch immer, wenn sie sie benutzt oder betrachtet. Und sie besitzt vieles. Der Oldtimer, den sie gerade fährt, ist nicht der einzige: in der Garage stehen noch fünf weitere. Von den Antiquitäten und Gemälden, an die sie ihr Herz gehängt hat, hast du hier ja schon einige gesehen. Und natürlich braucht sie auch Räumlichkeiten: ihr Haus ist eines der größten der Stadt. Das ist alles sehr schön für sie.“ Ungeduldig unterbrach das kleine Licht den langen Vortrag: „Ja, das glaube ich. Aber wo kommen jetzt die dunklen Wolken her, die alle ihre Besitztümer im Herzen umgeben?“ „Das ist die Angst“, erklärte der Teppich. „Die Angst, all die schönen Dinge wieder zu verlieren. Das fängt bei Motten im Teppich an.“ Er schüttelte sich voll Grauen. „Es ist die Angst vor Holzwürmern in den Antiquitäten, die alles zu Staub zerfallen lassen, es ist die Angst vor dem Rost, der die Oldtimer zerstört, es ist die Angst vor Dieben. Man braucht alle möglichen Mittelchen, die den Fraß aufhalten, Alarmanlagen und teure Versicherungen braucht man auch. Immer wieder entstehen neue Gefahren für das Eigentum. Man lebt im Bewusstsein, dass all die schönen Dinge gefährdet sind, dauernd, und vielleicht zerstört werden oder einfach durch den Zahn der Zeit vergehen, aufgenagt und abgefressen werden. Meine Menschin muss immer Angst haben, ihr Liebstes zu verlieren.“ „Das wäre mir zu anstrengend“, teilte das kleine Licht dem Teppich mit. Für sich selbst merkte es sich: „Menschen dürfen ihr Herz nicht zu sehr an Dinge hängen, um leuchten zu können“, bevor es sich entschloss einen anderen Menschen aufzusuchen.

 

12. Dezember

Das kleine Licht verließ die Frau mit all den schönen Dingen im Herzen genau in dem Augenblick, als das Auto an einer Ampel anhielt. Vor einer Gaststätte auf der anderen Straßenseite sah es einen Mann in ungewöhnlicher Kleidung. Er trug Mütze, Schal, ein Sporttrikot und eine abgetragene und zerfranste Weste. Auf all diesen Kleidungsstücken waren größere oder kleinere Abzeichen eines Fußballvereins zu sehen. In diesem Moment erscholl aus der Kneipe ein vielstimmiger Schrei. Der Mann hob eine Bierdose, stimmte in den Ruf ein und leerte dann mit einem einzigen, tiefen Zug sein Getränk. Offensichtlich schaute man in der Bar ein Fußballspiel in dem soeben ein Tor gefallen war. Der Mann warf die leere Bierdose achtlos in den Rinnstein und beeilte sich, schnell in das Innere des Lokals zu kommen, wo auf großen Bildschirmen ein Spiel seiner Mannschaft übertragen wurde. Das kleine Licht entschloss sich, diesen Menschen etwas genauer anzusehen. Es nutzte den Lichtschein, der mit der geöffneten Tür aus dem Innenraum drang, um den Mann unbemerkt zu entern. Es wunderte sich gar nicht darüber, im Herzen des Mannes auf vielfältige Fanartikel zu treffen, die sich alle mit der Fußballmannschaft beschäftigten, deren Embleme es bereits auf der Kleidung des Mannes wahrgenommen hatte. Da gab es das Modell eines Stadions, es gab Poster auf denen die Mannschaft und andere, auf denen einzelne Spieler zu sehen waren. Neben Pokalen, die die Mannschaft wohl einmal gewonnen hatte, hingen Wimpel des Vereins. All diese Dinge wurden von einem immerwährenden Feuerwerk aus Pyrotechnik beleuchtet, wie man es oft in den Stadien sehen kann, obwohl es offiziell verboten ist. Das Herz dieses Menschen brannte wirklich für seine Mannschaft.

 

13. Dezember

Einen Ehrenplatz nahm die abgetragene und zerfranste Weste mit ihren vielfältigen Aufnähern ein. Sie glühte förmlich und überstrahlte alles, was das Herz sonst noch beherbergte. An sie wandte sich das kleine Licht. „Du bist soviel schäbiger als alles andere hier. Wie kommt es, dass du selbst heller leuchtest als die goldenen Pokale?“ Verlegen wand die Weste sich ein wenig. „Ich weiß selbst, wie schäbig ich aussehe. Mein Mensch hat aber soviel mit mir erlebt, dass er mir eben diesen besonderen Platz zugesteht.“ „Was kann man denn mit einer Weste erleben?“, wunderte sich das kleine Licht. „Ich bin nicht allein“, erklärte die Weste. „Viele der Freunde meines Menschen tragen Kutten wie mich. Wir sind das Symbol ihrer Freundschaft und ihres gemeinsamen Interesses an unserem Fußballclub. Sie tragen uns, weil so ihre Verbundenheit für sich selbst und andere Menschen sichtbar wird.“ Die Weste hielt einen Moment inne. „Verstehst du, in einem Club wie dem unseren kommen immer wieder neue Spieler während andere uns verlassen. Trainer werden ausgewechselt und wir haben sogar schon ein neues Stadion bekommen. Aber ich“, und dabei straffte sich die Weste voll Stolz, „ich bleibe dieselbe bei allen Veränderungen. Ich stehe für den Zusammenhalt. Ich bin dabei, wenn die Gruppe meines Menschen sich über einen Erfolg freut. Ich bin dabei, wenn sie weinen, weil sie verloren haben oder absteigen.“ „Jetzt habe ich verstanden“, freute sich das kleine Licht, „In der Gemeinschaft für die du stehst, sind dein Mensch und seine Freunde stark, weil sie sich nicht nur gemeinsam freuen, sondern sich auch bei Misserfolgen gegenseitig stärken.“ Und für sich selbst merkte sich das kleine Licht: „Menschen brauchen die Gemeinschaft mit anderen Menschen, um leuchten zu können.“

 

14. Dezember

Am frühen Morgen saß auf einer Bank in einem Park eine weinende junge Frau. Sie nestelte eine Zeit lang in den Taschen ihres Mantels herum. Schließlich hatte sie gefunden, was sie gesucht hatte: ein schon sehr feuchtes Taschentuch kam zum Vorschein, in dass sie sich zuerst schneuzte und es dann dazu nutzte, die Tränen von ihren Wangen zu wischen. Das Taschentuch verschwand wieder im Mantel. Die junge Frau atmete ein wenig durch. Bald wurde sie aber einmal mehr von einem Weinkrampf geschüttelt und schon flossen neuerlich Tränen. Wieder suchte ihre Hand blind nach dem Taschentuch. Das kleine Licht war ja eigentlich auf der Suche nach dem lebendigen Licht in den Menschen. Wo sollte sie es in diesem weiblichen Wesen finden, das so nah am Wasser gebaut hatte? Jedes Feuer würde durch die Flut der Tränen doch gelöscht werden. Dennoch war es von der Trauer der jungen Frau angerührt. Und wer wusste schon, ob nicht ausgerechnet bei ihr neue Erkenntnisse über das Licht im Herzen der Menschen zu gewinnen waren. Abgelenkt durch ihre Tränen bemerkte die Frau überhaupt nicht, wie das kleine Licht ihr ins Herz schlüpfte. Verwundert stellte sie jedoch fest, dass mit einemmal ihre Tränen fast versiegten. Wo das Licht im Herzen auch immer herkommt, verändert es doch stets das eigene Leben. Wie das kleine Licht bereits vermutet hatte, war im Herzen der Frau kein loderndes Licht der Lebensfreude zu finden. In einer Ecke glomm aber noch ein glutrotes Nest, in dessen Zentrum das kleine Licht einen silberner Ring entdeckte. Da hatte es ja einen Gesprächspartner entdeckt an den es sich wenden konnte. 

 

15. Dezember

Wie sich herausstellte, konnte der Ring nur mit sehr leiser, wenn auch silberheller Stimme sprechen. Natürlich war die Geschichte, die er erzählte traurig. Sonst würde die Frau jetzt ja auch nicht so weinen. Angefangen hatte sie aber sehr glücklich. So ging sie: Seine Menschin hatte sich ganz unsterblich verliebt. Ein junger Mann war ihr aufgefallen, der ihr außerordentlich gefiel. Einfach alles was sie von ihm sah und von ihm hörte, gefiel ihr. Also fast alles. Vielleicht war seine Nase ein wenig zu lang. Und er stotterte ein bisschen. Aber ein bisschen Stottern konnte einen Menschen ja fast noch liebenswürdiger machen, nicht wahr? Und er ließ sich seinen ererbten Reichtum manchmal etwas heraushängen. So war er eben. Sie hätte ihn auch geliebt, wenn er arm wie eine Kirchenmaus gewesen wäre. Sie war dazu bereit, einen Menschen so anzunehmen, wie er eben war. Sie liebte ihn einfach. Und was noch schöner war: derjenige, in den sie sich verliebt hatte, erwiderte ihre Gefühle. Da wurde nicht nur ihr Herz hell, sondern ihr ganzes Leben. Als sichtbares Zeichen ihrer gegenseitigen Liebe schenkten sie sich zierliche silberne Ringe. Himmelhochjauchzend genoss sie die erste Zeit ihrer großen Liebe. Sie versenkte sich ganz in die Liebe zu ihm, dachte nur noch an ihren Geliebten, schwebte wie auf Wolken und lebte wie abgehoben von der Erde. Das war sehr schön. Diese Zeit sollte nie enden.

 

16. Dezember

Alles was sie tat, tat sie nur für ihn. Und das war ein Problem. Zuerst fiel es ihr überhaupt nicht auf. Sie hatte ihr Lieblingsessen gekocht. Rührei mit Pfifferlingen. Er saß am Tisch und stocherte lustlos auf seinem Teller herum. Hm. Gut, dann würde sie dieses Essen eben nicht mehr zubereiten. Als er Champagner mitbrachte, zwang sie sich dazu, lächelnd mit ihm anzustoßen. Sie hasste Champagner. Wenn sie ihren Lieblingspullover anzog, flüsterte er ihr ins Ohr, dass so ein Sack doch nichts für sie sei. In hautengen, verführerischen Kleidern gefalle sie ihm viel besser. Sie verbannte den Pullover in die hinterste Ecke des Schranks. Er brachte ihr Schminkzeug mit. Bisher hatte ihr ein natürliches Aussehen viel besser gefallen. Ihm zuliebe lernte sie, mit dem Make-up umzugehen und sich so herzurichten, wie sie ihm gefiel. Er schenkte ihr einen Gutschein für den angesagtesten Friseur der Stadt. Sie sah eine Fremde im Spiegel, als der Haarkünstler mit ihr fertig war. Etwas von ihr selbst verschwand mit jedem Schritt, den sie auf ihn zuging. Und das Feuer in ihrem Herzen wurde immer kleiner. Als sie genau so war, wie er sie haben wollte, geschah es: Er trennte er sich von ihr, weil sie nicht mehr die war, in die er sich verliebt hatte. Sie hatte nun nicht nur sich selbst verloren, sondern auch den, den sie liebte. „Menschen müssen zusehen, dass sie sich selbst finden und bei sich bleiben, um leuchten zu können“, merkte sich das kleine Licht.

 

17. Dezember

Das kleine Licht beschloss seine Suche jetzt anders aufzuziehen. Es hatte bei verschiedenen Gelegenheiten schon vieles über Licht im Herzen der Menschen erfahren. Diese Erfahrung wollte es nun anwenden. Bei dem geschickten Ballspieler hatte es direkt miterlebt, wie und warum das Licht im Herzen verdunkelt wurde. Da hatte es noch gemeint, es könne nicht helfen. 

Vielleicht gab es ja doch Möglichkeiten das Licht im Herzen heller zu machen? Man konnte es ja einmal versuchen. So gut es ging, wollte es sich in einem Winkel eines Menschenherzens verbergen. Dann wollte es mit diesem Menschen eine Zeitlang leben, mit ihm in seine Zukunft gehen. Es hatte immer nur zugehört und zugeschaut. Jetzt wollte es durch sein Leuchten ins Leben der Menschen eingreifen. 

Da bot sich eine Gelegenheit: Ein alter Mann mit verkniffenem Gesicht schlurfte durch den Park. Warum sollte der es nicht sein? Vorsichtig näherte das kleine Licht sich dem Menschen. Als es ihm gelungen war, in sein Herz einzudringen, wunderte es sich. Nichts war dort wirklich hell, und auch nichts wirklich dunkel. Überall herrschte ein düsteres Zwielicht. Der Mann schien nichts im Herzen zu tragen. Es durchforschte sämtliche Ecken und Winkel des Herzens. Nichts. Das war wirklich ungewöhnlich. Wenn das kleine Licht es gekonnt hätte, hätte es sich verwundert am Kopf gekratzt.

Jedes Menschenkind weiß, dass sein Herz eine Stimme hat. Wenn man als Mensch nur genau genug zuhört, kann man es hören. Und wer es nicht nur hören kann, sondern auch bereit dazu ist, auf es zu hören, dem kann es eine Richtschnur für das Leben sein. Das kleine Licht wusste davon nichts. Umso erstaunter war es, nun eine Stimme zu hören, die aus allen Richtungen zugleich zu kommen schien. 

 

18. Dezember

Es war die Herzensstimme des alten Mannes. Und die war natürlich aus allen Richtungen zu hören, weil sich das kleine Licht ja im Inneren des Herzens befand. Die Stimme des Herzens begrüßte freudig das kleine Licht. Dann fing sie aber sofort an, sich über ihren Menschen zu beklagen: „Stell' dir vor“, sagte die Herzensstimme, „stell' dir vor, wie sonderbar mein Mensch ist. Jeder Mensch hat etwas in seinem Herzen. Entweder etwas, das er sehr liebt, oder etwas, das ihm auf dem Herzen lastet, etwas, das ihn quält.“ „Davon habe ich schon vieles gesehen und ich könnte dir viel davon erzählen“, erklärte das kleine Licht. „Und?“, fragte die Herzensstimme, „Hast du hier irgend etwas ähnliches gefunden?“ Das kleine Licht musste die Frage verneinen. Die Herzensstimme redete sich nun in Rage: „ Mein Mensch lässt nicht zu, dass das Licht in seinem Herzen hell brennt. Er fürchtet, dass es dann zu schnell verbrennt und bald erlischt. Er wartet auf die EINE große Gelegenheit und verpasst deswegen all die kleinen Freuden, die das Leben eigentlich für ihn bereithält. Er hat Vermögen, gönnt sich aber nichts: Keinen Genuss. Kein gutes Essen. Keinen Urlaub. Kein Vergnügen. Aus Angst die wirklich große Freundschaft zu verpassen erlebt er weder Liebe noch Zuneigung.“ „Schön dumm!“ und „Das möchte ich sehen!“, sagte das kleine Licht und verließ das Herz, um den Menschen von außen betrachten zu können. Der Mann hatte mittlerweile den Park verlassen. Sein Weg führte ihn durch eine Straße mit vielen kleinen Läden. Es hatte begonnen leicht zu regnen. Der Mann hatte keinen Schirm bei sich. Die aromatischen Düfte aus den einladend geöffneten Türen eines Cafés, wo er im Trockenen einen Kaffee trinken könnte, ignorierte er jedoch. Stattdessen zog er seinen Kopf zwischen die Schultern und lief weiter. Sein Gesicht war jetzt noch verkniffener als zuvor.

 

19. Dezember

Das kleine Licht tauchte wieder ins Herz des Mannes ein. „Ich verstehe nun das Problem“, sagte es zur Herzensstimme. „Wie oft habe ich schon versucht, zu ihm zu sprechen. Er hört mich nicht“, klagte diese. „Ich bin halt nur eine leise Stimme. Noch dazu erfahre ich hier zu spät von Gelegenheiten, bei denen ich ihm Mut zu mehr Licht im Herzen machen könnte. Dann hat er die Gelegenheit längst verpasst: Er ist am Café vorbeigelaufen. Er hat wieder die hässliche graue Leberwurst gekauft, die er gar nicht mag. Er hat die freundliche Frau einfach stehengelassen.“ Die Herzensstimme war immer leiser geworden und verstummte nun. Das kleine Licht überlegte. Dann blitzte es plötzlich hell auf. „Ich habe eine Idee“, rief es. „Wir beide müssen allerdings zusammen arbeiten.“ Und dann erklärte das kleine Licht der Herzensstimme seinen Plan. Wie der aussah? Wir werden sehen. Ein Straßenmusiker mit seiner Geige hatte sich unter dem Vordach eines Ladens aufgestellt. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Musikant spielte wunderschön. Viele Zuschauer hatten sich in einem Halbkreis um den Geigenspieler versammelt. Einige von ihnen warfen Münzen in den aufgeklappten Geigenkasten, andere applaudierten. Jedem im Publikum wurden das Herz angerührt, das merkte man. Der alte Mann mit dem verkniffenen Gesicht näherte sich. Über ihm schwebte das kleine Licht. Das gehörte zu seinem Plan. Als die beiden schon so nahe beim Geigenspieler waren, dass die Musik laut und vernehmlich zu hören war, sauste das kleine Licht ins Herz des Menschen. „Jetzt!“, rief es, und die Herzensstimme schwoll an, nahm zu, bemühte sich so laut es nur ging sich zu erheben, redete ihrem Menschen ins Gewissen. „Bleib stehen!“, war da zu hören und: „Genieß die Musik! Lass sie in dich fließen! Freue dich an ihrer Schönheit!“ Gleichzeitig flitzte das kleine Licht wieder nach draußen um zu beobachten ob die Herzensstimme bei dem alten Mann ankam und wirkte. Gleichgültig trottete der alte Herr weiter. 

 

20. Dezember

Weder von der Schönheit der Musik noch von mir hat er auch nur irgendetwas wahrgenommen“, sagte die Herzensstimme mutlos. Das kleine Licht versuchte sie zu trösten: „Nicht alles kann schon beim ersten Versuch klappen. Überlege mal wieviele Jahre er nicht auf dich hören wollte. Es braucht sicher Zeit und weitere Versuche, bis wir ihn gemeinsam erreichen können. Wir müssen dran bleiben!“ Die Herzensstimme schwieg zunächst verzagt. „Mach mal“, sagte sie dann leise und unsicher. Und das kleine Licht machte. Ein wenig über dem alten Herrn schwebend begleitete es ihn auf seinem Weg durch die Stadt. Seine Einkäufe hatte der Mann in der Zwischenzeit erledigt. Er ging jedoch nicht schnurstracks nach Hause, sondern schien etwas zu suchen oder auf etwas zu warten. Sein Blick jedenfalls zuckte unstet umher. Das kleine Licht überlegte, warum der Mann sich so verhielt. Hatte das Rufen seines Herzens doch etwas bewirkt? Kurz tauchte es ins Herz ein. „Es tut sich etwas!“, teilte es der Herzensstimme mit, um rasch seinen Beobachtungsposten über dem Menschen wieder einzunehmen. Und dann hätte es fast selbst die nächste Gelegenheit übersehen. Besser gesagt, fast hätte es sie überhört. Ein leises, jämmerliches Fiepen war nämlich aus einer dunklen Hofeinfahrt zu hören. Nun aber schnell die Herzensstimme informieren. „Jetzt!“, raunte das kleine Licht dem Herzen zu. Und die Stimme des Herzens wurde so laut, wie sie es noch nie gewesen war. Der Alte hielt inne, beugte sich in die Einfahrt und streichelte den einsamen Hundewelpen der dort angebunden war. Viel von der Verkniffenheit war aus seinem Gesicht verschwunden. Und in seinem Herzen begann ganz sachte ein Licht zu glimmen. „Na, das kann ja noch werden“, freute sich das kleine Licht. Und es merkte sich: „Menschen müssen bereit sein die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen, um leuchten zu können.“

 

21. Dezember

Rosige Backen in einem vergnügten Gesicht. So saß die Frau in einem Restaurant. Es schien ein sehr gediegenes Haus zu sein, denn viele Bedienstete standen bereit um die Kunden zu versorgen. Das kleine Licht war mit dem Portier, der normalerweise Gäste draußen begrüßte und sie dann hineingeleitete, durch die Drehtür geschlüpft. Es gab nicht viele Besucher – kein Wunder bei den Preisen, die auf der Speisekarte aufgerufen wurden. Dafür wurde auf der Karte nur das Beste vom Besten angeboten. Auch beim Ambiente hatte die Geschäftsführung an nichts gespart. Moderne Gemälde wurden von verborgenen Strahlern raffiniert ausgeleuchtet. Laserstrahlen erzeugten in den hohen Räumen eine Architektur aus Lichtbögen, die sich immer wieder veränderte. Chrom und Leder herrschten bei den Sitzmöbeln vor. Das kleine Licht dachte bei sich, es sei in einem Refugium für Schwerreiche gelandet. Hoffentlich würde es bei den Menschen, die sich dieses Sternerestaurant leisten konnten, nicht auch nur auf Kälte in den Herzen treffen, wie es bei dem ersten Menschen im Hochhaus der Fall gewesen war. Die Frau war ihm sofort aufgefallen. Wer so vergnügt war, hatte doch sicher ein Licht im Herzen. Es war für das kleine Licht kein Problem entlang der gebogenen Laserstrahlen an der Decke bis zu der Frau zu gelangen und – schwupps – war es auch schon in deren Herzen angelangt. Hell war es hier schon. Aber leer. „Was ist denn hier los?“, fragte es in die helle Leere der Herzkammer hinein. „Sieh selbst!“, war die lapidare Antwort der Herzensstimme. Etwas irritiert bemerkte das kleine Licht plötzlich eine Auster die im Zentrum des Herzens aufploppte wie ein Popcorn. Umgeben war diese von einer Gloriole aus Licht. Noch bevor es die Auster ansprechen konnte, flammte deren Gloriole in einem grellen, tödlichen Lichtblitz auf und verschwand. Verschwunden war auch die Auster. Was geschah hier bloß?

 

22. Dezember

Das kleine Licht staunte immer noch, als eine neue Erscheinung sich ankündigte: ein goldener Löffel auf dem einige schwarze Kügelchen lagen. „Kaviar, das muss Kaviar sein“, dachte es bei sich. Auch um den Löffel mit den Fischeiern bildete sich ein Nimbus aus strahlendem Licht. Ebenso wie zuvor die Auster explodierte einen Moment später der Goldlöffel samt Inhalt und Nimbus in einem gleißenden Aufleuchten. Es dauerte nicht lange, bis es einem Glas Champagner genauso erging. Immer schneller hintereinander erschienen Gerichte und Getränke um sich ebenso schnell in einer Reihe von Explosionen wieder aufzulösen. Hier im Herzen kam das kleine Licht nicht weiter. Es musste in der Außenwelt diesem seltsamen Geschehen auf den Grund gehen. Das kleine Licht versteckte sich wieder in den Laserstrahlen. „Haben Sie denn nicht noch etwas außergewöhnlicheres als die Dinge, die sie mir bereits serviert haben?“, fragte da gerade die Dame den Kellner. Der schüttelte bedauernd den Kopf. Die enttäuschte Dame verlangte die Rechnung und das kleine Licht schlüpfte zurück in ihr Herz. Dort meldete sich recht erschöpft die Herzensstimme: „Da bist du ja wieder. Meine Menschin ist mir zu anstrengend. Sie ist immer auf der Suche nach dem ultimativen Kick. Wenn sie vermeint, meine Stimme zu hören, die ihr etwas sagen will, geht sie ab wie ein Zäpfchen. Dabei ist es gar nicht meine Stimme, die sie hört. Es sind andere Einflüsterungen. Fremdgesteuert verliert sie sich selbst. Alles was neu, wertvoll und einzigartig ist, muss sie haben. Sobald sie es hat, ist es ihr nicht mehr wichtig. Sie glaubt, das Licht im Herzen kann nur hell brennen, wenn es immer neuen Brennstoff kriegt. Sie versteht mich nicht falsch, sie versteht mich überhaupt nicht, weil sie andere Stimmen für meine Stimme hält.“ „Menschen müssen lernen, was die Stimme des Herzens ihnen wirklich zu sagen hat, um leuchten zu können“, merkte sich das kleine Licht.

 

23. Dezember

Verwirrt hatte das kleine Licht das Herz der Dame verlassen. In seiner Verwirrung und fehlgeleitet durch die Laserstrahlen im Raum fand es sich nur Sekunden später in einer weiteren Herzkammer. Licht und Dunkelheit lieferten sich hier einen heftigen Kampf. Denn sowohl die Dunkelheit, als auch das Licht nahmen jeweils etwa eine Hälfte des Herzens ein. Wie zwei aufeinandertreffende Wellen wogten sie gegeneinander an, so dass manchmal die Dunkelheit, manchmal das Licht die Überhand zu gewinnen schien. Genau an der Grenze zwischen den beiden Sphären, so dass sie manchmal von der Dunkelheit verschlungen; manchmal aber auch vom Licht umstrahlt war, befand sich eine junge Frau. So etwas hatte das kleine Licht noch nie gesehen. „Interessant, nicht wahr?“, ließ sich die Herzensstimme vernehmen. Das kleine Herz murmelte zustimmend. „Weißt du, was noch interessanter ist?“, setzte die Herzensstimme nach. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Die selbe Szene gibt es in einem anderen Menschenherzen noch einmal. Nur befindet sich dort nicht eine Frau, sondern ein Mann im Zentrum des Geschehens. Wenn zwei Menschen sich wirklich lieben, musst du wissen, dann sind sich ihre Herzen so nah, dass beide jeweils den anderen im Herzen tragen.“ „Das verstehe ich“, antwortete das kleine Licht. „Aber warum tobt dann gleichzeitig so ein gewaltiger Kampf zwischen dem Licht und der Dunkelheit in ihren Herzen?“ „Das ewig alte Spiel“, seufzte die Stimme. „Weil sie sich so sehr lieben, sorgen sie sich um den jeweils anderen. Sie haben Angst vor Untreue, Krankheit oder Tod die sie trennen könnten. Manchmal ist die Angst größer als ihre Liebe. Dann gewinnt die Dunkelheit den Kampf im Herzen.“ „Bei den Menschen in ihrem Erdenleben gibt es alles nur auf Zeit“, wusste das kleine Licht. Und es merkte sich: „Menschen müssen dem Licht im Herzen vertrauen, um leuchten zu können.“ 

24. Dezember

Schließlich war es im Herzen der Toilettenfrau des noblen Restaurants gelandet. Sie war ihm aufgefallen, weil sie als einzige der vielen Bediensteten jenes Leuchten in den Augen gehabt hatte, das ein Widerschein seines eigenen Glanzes war. In ihrem Herzen konnte es, nach den Aufregungen zuvor, ein wenig zur Ruhe kommen. Was hatte es nicht alles erlebt seit es in die Welt gekommen war. Und was hatte es sich nicht alles merken müssen. Alles was wichtig ist, damit die Herzen der Menschen und mit ihnen die Menschen selbst leuchten können. Sicher hatte es einiges übersehen. Was die Menschen nicht alles beachten mussten, um zu leuchten. Das kleine Licht seufzte ein wenig. Für es selbst war es die natürlichste Sache der Welt. Ob die Aufgabe ihr Herz leuchten zu lassen, vielleicht eine Prüfung für die Menschen sein sollte? Die Herzensstimme riss es aus seinen Gedanken: „Willkommen zu Hause!“ Moment mal. Zu Hause? Das kleine Licht sah sich um und verstand. Dies war einer der besonderen Menschen, die es von Anfang an gesucht hatte. Freundlich und ruhig brannte hier das Licht. Nicht einen Anschein von Dunkelheit gab es. Diese Frau hörte auf die Stimme ihres Herzens. Sie wusste, was das Herz weinen und was es lachen lässt. Die Stimme des Herzens wurde nun ganz liebevoll: „Hier ist das Licht daheim. Hier bist du daheim. Sieh nur!“ Und das kleine Licht sah sich im Herzen der Toilettenfrau um. Es sah hunderte, tausende, Millionen und Myriaden von Lichtern, wie es selbst eines war. Die Herzensstimme fuhr fort: „Hier siehst du das eine große Licht mit der Kraft der vielen kleinen Lichter. Es leuchtet in den Herzen aller Menschen, wenn sie erst wirklich zu Menschen geworden sind. Und es gibt genug von euch, um für die Herzen aller Menschen der ganzen Welt, die noch auf dem Weg zu sich selbst sind, auszureichen. Gebt nicht auf!

Noch ist Hoffnung!

 

 

Allen meine Leserinnen und Lesern ein gesegnetes und frohes Weihnachtsfest. Lasst das Licht in Euren Herzen und Augen leuchten!

 


Wenn jemand gerne einen Kommentar abgeben möchte: hier wäre der Platz dazu.

Kommentare: 6
  • #6

    Barbara (Donnerstag, 30 Dezember 2021 04:29)

    Lieber Peter,
    Erst heute habe ich Zeit gefunden deine Geschichte zu Ende zu lesen.
    Sie ist herzerwärmend und hat mich zu Tränen gerührt.
    Gerne würde ich wissen , wie es in meinem Herzen aussieht.
    Wie ich mehr Licht hineinbekomme weiß ich ja jetzt. Ich muss es nur umsetzten.
    Vielen Dank � ich wünsche dir und deinen Eltern einen guten Beschluss.
    Glück und Segen für das neue Jahr
    Seid behütet

  • #5

    Anka (Montag, 27 Dezember 2021 01:22)

    Lieber Peter,
    eine wunderschöne Geschichte. Oft wenn ich in meinen Gedanken bin, überlege ich jetzt was in meinen Herzkammern passiert. Ist es dort hell oder dunkel?
    Die Geschichte hat mich zum Nachdenken angeregt und die Spannung war immer da. Ich wollte immer wissen wen das kleine Licht sonst noch trifft.
    Vielen lieben Dank, lieber Peterka!

  • #4

    Ursula Dungl (Sonntag, 26 Dezember 2021 07:00)

    LieberPeter´,
    ich danke Dir, wie jedes Jahr, dass du dir die Arbeit gemacht hast ´, mich zu ermuntern,
    achtsamer mit mir und meinem inneren Licht umzugehen. Ich werde mir erneut Mühe
    geben.
    Auch ich wünsche dir ein wunderbares Neues Jahr voll Glück, Zufriedenheit und Gesundheit.
    In großer Verbundenheit liebe Grüße
    Ursula



  • #3

    Sabine (Freitag, 24 Dezember 2021 03:26)

    Mir hat die Geschichte vom kleinen Licht sehr sehr gut gefallen. Ein schoener Gedankenanstoss, um in sich zu gehen und das Positive zu finden. Besonders schoen fand ich das Kapitel vom 5. Dezember: "Mein Mensch [sagte der Ball] leuchtet von innen, weil er niemanden anderen braucht, der ihn lobt. Der findet sich selbst gut.“ „Menschen müssen sich selbst mögen, um leuchten zu können,“ merkte sich das kleine Licht.
    Ganz lieben Dank fuers Teilen dieser schoenen Geschichte.

  • #2

    Barbara Söder (Donnerstag, 16 Dezember 2021 04:38)

    Sehr, sehr schöne geschichtchen

  • #1

    Kiwiba (Mittwoch, 01 Dezember 2021 00:14)

    Lieber Adventskalendergeschichtenschreiber, ich hab mich wieder enorm auf deinen Adventskalender gefreut und der Anfang der diesjährigen Geschichte wärmt jetzt bereits das Herz. Ich freue mich auf die Fortsetzung der Erlebnisse des kleinen lebendigen Lichts.